Gottes Traum von einer widerstandsfähigen Familie
Was macht die Kirche* eigentlich aus?
Kirchen erfinden sich ständig neu, Programme werden entwickelt und Strategien angepasst. Ich stelle mir immer wieder eine fundamentale Frage: Was ist eigentlich die Essenz der Kirche? Was macht sie zu dem, was sie ist – unabhängig von Kulturen, Stilen oder Epochen?
Je länger ich darüber nachdenke und je tiefer ich in die Schrift eintauche, desto klarer wird mir: Die Kirche ist Gottes Zuhause. Sie ist die von Gott selbst gebaute Familie auf Erden, in der jeder willkommen ist und jeder dazugehört.
Der Epheserbrief drückt es so aus: Gott baut ein Zuhause, in dem wir alle zusammengefügt werden – ein Tempel, in dem Gott sich wirklich zu Hause fühlt. Das ist keine poetische Übertreibung. Das ist Gottes Traum für seine Kirche.
Jesu Verheißung: Eine unzerstörbare Familie
Ich denke oft an jenen Moment zurück, als Jesus seine Jünger fragte: „Wer bin ich?“ Petrus antwortete mutig: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Und dann machte Jesus eine Ankündigung, die mich immer wieder neu herausfordert:
„Ich werde meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“
Das war keine bescheidene Vision für einen netten religiösen Verein. Jesus sprach von einer massiven, aktiven, widerstandsfähigen Familie, die so stark sein würde, dass selbst die schlimmsten Kräfte der Hölle sie nicht niederreißen könnten.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Vision manchmal aus den Augen verloren. In unseren schwachen Momenten, wenn Konflikte auftauchen oder Menschen die Gemeinde verlassen, frage ich mich: Ist die Kirche wirklich so stark? Aber dann erinnere ich mich: Das ist nicht meine Kirche. Es ist Jesu Kirche. Und sein Versprechen steht.
Die Gefahr des Abdriftens
Nach seiner Himmelfahrt gab Jesus uns den Missionsbefehl: Geht hinaus und macht alle Völker zu Jüngern. Trainiert sie in dieser Lebensweise. Und dann fügte er etwas Entscheidendes hinzu: „Ich werde bei euch sein, jeden Tag, bis ans Ende der Zeit.“
Warum war ihm diese Zusage so wichtig? Weil Jesus wusste: Wir sind anfällig für das Abdriften.
Ich habe mal von einer faszinierenden Geschichte gelesen: 1992 fielen 29.000 Gummienten von einem Container ins Meer. Seitdem treiben sie durch die Weltmeere – von China nach Alaska, von Alaska nach Europa. Diese Enten sind ein Bild für das, was mit der Kirche passieren kann.
Ohne bewusste Ausrichtung und klare Werte können auch wir von kulturellen Strömungen abgetrieben werden, weg von Gottes ursprünglichem Plan. Das ist nicht nur eine theoretische Gefahr. Ich sehe es überall: Kirchen, die ihre Identität verloren haben. Gemeinden, die dem Zeitgeist folgen statt Christus. Menschen, die sich „christlich“ nennen, aber nicht mehr wissen, was das bedeutet.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns auf das konzentrieren, was wirklich zählt.
Vier essentielle Werte, die uns verankern
In den letzten Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, was die Kirche ausmacht – nicht äußerlich, sondern im Kern. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es vier unverzichtbare Werte gibt, die das Wesen der Kirche Jesu Christi ausmachen:
1. VIELFALT* – Die Überwindung des Tribalismus
Seien wir ehrlich: Unsere natürliche Tendenz ist es, uns mit Menschen zu umgeben, die so sind wie wir. Wir bilden Stämme. Wir mögen Menschen, die unsere Werte teilen, unsere politischen Ansichten, unseren Musikgeschmack, unseren sozioökonomischen Status.
Aber die Kirche Jesu Christi ist dazu berufen, alle menschlichen Trennlinien zu durchbrechen.
Paulus macht es deutlich: In Christus gibt es weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau. Christus hat die Trennmauer niedergerissen. Die Vision des Himmels zeigt eine multiethnische Anbetung aus jedem Stamm und jeder Nation.
Das fordert mich heraus. Spiegelt meine Gemeinde diese Vielfalt wider? Oder gleichen die meisten Menschen, mit denen ich Gottesdienst feiere, einander?
Die Kirche muss ein Ort sein, wo Menschen willkommen sind – unabhängig von Geschlecht, Alter, Hintergrund, Ethnizität, politischer Überzeugung oder sozioökonomischem Status. Nicht weil es politisch korrekt ist, sondern weil es dem Herzen Gottes entspricht.
Das ist nicht einfach. Vielfalt ist unordentlich. Sie erfordert Geduld, Demut und die Bereitschaft, eigene Vorurteile infrage zu stellen. Aber es lohnt sich. Denn nur so wird die Kirche zu dem, was sie sein soll: Ein Vorgeschmack auf den Himmel.
2. AUTHENTIZITÄT – Der Arzt für die Kranken
Die zweite Versuchung der Kirche ist es, ein Ort oberflächlicher Ermutigung zu werden, an dem niemand über echte Probleme spricht. Jeder lächelt. Jeder sagt „mir geht’s gut“. Aber unter der Oberfläche kämpfen Menschen mit Sucht, zerbrochenen Ehen, Depressionen, Zweifeln.
Jesus stellte eine provokante Frage: „Wer braucht einen Arzt – die Gesunden oder die Kranken?“
Die Kirche Jesu Christi muss ein Ort der Authentizität sein. Ein Ort, wo Menschen ihre „Krankheiten“ – ihre Sünde, ihre Kämpfe, ihre Schmerzen – eingestehen können, anstatt sie zu verbergen.
Ich habe zu oft erlebt, wie Menschen in der Kirche eine Maske tragen. Und ich verstehe es. Niemand möchte verurteilt werden. Niemand möchte als „geistlich unreif“ abgestempelt werden. Aber das ist genau das Problem.
Ein Krankenhaus bietet echte Heilung – auch wenn die Diagnose schmerzhaft ist. Eine Ermutigung, die die Wahrheit verschweigt, ist letztlich wertlos. Die Kirche muss beides sein: Ein Ort der Wahrheit UND ein Ort der Gnade.
Das bedeutet nicht, dass wir Sünde tolerieren oder Kompromisse eingehen. Es bedeutet, dass wir die Wahrheit mit Mitgefühl, Zärtlichkeit und Fürsorge vermitteln. Es bedeutet, dass wir einen sicheren Raum schaffen, in dem Menschen ehrlich sein können, ohne Angst vor Ablehnung haben zu müssen.
Ich glaube, dass echte Transformation nur dort geschieht, wo Authentizität möglich ist.
3. GROSSZÜGIGKEIT – Geben als Anbetung
Der dritte Wert, den ich für unverzichtbar halte, ist Großzügigkeit. Aber nicht als finanzielle Transaktion, sondern als Akt der Anbetung.
Ich weiß, dass Geld ein heikles Thema ist. Viele Menschen sind skeptisch, wenn Pastoren über Finanzen sprechen. Und ich verstehe das – es gibt zu viele negative Beispiele von Missbrauch und Manipulation.
Aber die Wahrheit ist: Großzügigkeit ist ein gottgewollter Akt.
Denk an Abraham, der Melchisedek den Zehnten gab. Denk an die Witwe, die ihre letzten zwei Groschen in den Tempel legte. Denk an die erste Gemeinde, die alles miteinander teilte.
Geben ist nicht ein Mittel zum Zweck. Es ist nicht einfach eine Methode, um das Gemeinde-Budget zu decken. Geben ist ein Ausdruck unseres Herzens. Es zeigt, wem wir vertrauen. Es zeigt, was uns wirklich wichtig ist.
Wenn ich meine finanziellen Ressourcen zurückhalte, sage ich damit: „Gott, ich vertraue dir nicht genug. Ich muss das selbst unter Kontrolle haben.“ Aber wenn ich großzügig gebe, erkläre ich: „Gott, du bist der Herr über mein Leben – auch über meine Finanzen.“
Das gilt nicht nur für Geld. Es gilt auch für Zeit, Fähigkeiten, Gastfreundschaft. Eine großzügige Kirche ist eine lebendige Kirche.
4. GEMEINSCHAFT – Mehr als ein Event
Der vierte Wert ist vielleicht der herausforderndste in unserer individualistischen Kultur: Gemeinschaft.
Ein Konzert oder ein Sportevent kann für einige Stunden ein Gefühl von Verbundenheit vermitteln. Tausende von Menschen singen die gleichen Lieder, jubeln für das gleiche Team. Aber wenn das Event vorbei ist, gehen alle wieder ihrer Wege. Die Verbindung war real, aber flüchtig.
Die Kirche ist anders.
Paulus nennt die Kirche den Leib Christi. Wir sind nicht eine zufällige Ansammlung von Individuen. Wir sind ein Organismus, verbunden durch einen Geist, abhängig voneinander.
Das Bild ist radikal: Ein anonymer Christ ist ein Widerspruch in sich. Man kann nicht sagen: „Ich liebe Jesus, aber ich brauche die Kirche nicht.“ Das ist wie zu sagen: „Ich liebe meinen Kopf, aber meinen Körper brauche ich nicht.“
Ich verstehe die Enttäuschungen. Ich verstehe, dass Kirche manchmal verletzend ist. Menschen sind unvollkommen. Gemeinden machen Fehler. Aber zur Kirche zu gehören bedeutet nicht, Gottesdienste zu konsumieren, sondern Teil einer Familie zu sein – mit all der Unordnung, Verletzlichkeit und Schönheit, die dazugehören.
Das ist nicht einfach. Echte Gemeinschaft erfordert Zeit. Sie erfordert Verletzlichkeit. Sie erfordert die Bereitschaft, zu vergeben und um Vergebung zu bitten. Aber es lohnt sich.
Fremde werden zu Freunden. Freunde werden zu Familie.
Der Hebräerbrief ermahnt uns: Verlasst nicht das Zusammenkommen. Ermutigt einander. Gerade in einer Welt, die zunehmend einsam und fragmentiert ist, ist diese Gemeinschaft lebensnotwendig.
Ein Zufluchtsort in einer fragmentierten Welt
Wenn ich unsere Welt betrachte, sehe ich eine tiefe Sehnsucht: Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.
Menschen sehnen sich danach, gesehen zu werden. Sie sehnen sich nach einem Ort, wo sie authentisch sein können. Sie sehnen sich nach Gemeinschaft, die mehr ist als oberflächliche Social-Media-Verbindungen.
Die Kirche kann – und sollte – dieser Ort sein.
Ein Ort, wo:
- Vielfalt gefeiert wird statt gefürchtet
- Authentizität möglich ist statt Perfektionismus erwartet wird
- Großzügigkeit das Herz verändert statt Konsum zu fördern
- Gemeinschaft tiefe Wurzeln schlägt statt oberflächlich zu bleiben
Das ist nicht nur eine nette Idee. Das ist Gottes Traum für seine Kirche.
Fragen, die mich bewegen
Diese Überlegungen führen mich zu einigen unbequemen Fragen:
Vielfalt: Spiegelt meine Gemeinde die Vielfalt des Himmels wider? Oder gleichen die meisten Menschen einander? Suche ich bewusst Beziehungen zu Menschen, die anders sind als ich?
Authentizität: Ist meine Kirche ein Ort, wo ich über echte Kämpfe sprechen kann? Oder herrscht eine Kultur des „alles ist perfekt“? Bin ich selbst bereit, authentisch zu sein?
Großzügigkeit: Sehe ich mein Geben als Anbetung oder als Pflicht? Halte ich etwas zurück, weil ich Gott nicht wirklich vertraue?
Gemeinschaft: Habe ich tiefe, bedeutungsvolle Beziehungen in meiner Gemeinde und Nachbarschaft? Oder bin ich ein „anonymer Christ“, der nur konsumiert?
Diese Fragen sind nicht dazu da, mich zu verurteilen. Sie sind dazu da, mich herauszufordern.
Konkrete nächste Schritte
Ich habe gelernt, dass Erkenntnis ohne Aktion nutzlos ist. Deshalb möchte ich dich ermutigen, diese Woche konkret zu werden:
Diese Woche:
- Bete dafür, dass Gott dir hilft, eine Person anders als du in der Gemeinde wahrzunehmen und zu ermutigen
- Teile mit einer vertrauten Person eine authentische Herausforderung, mit der du gerade kämpfst
- Überlege, wie du großzügig sein kannst – nicht nur finanziell, sondern mit deiner Zeit, deinen Fähigkeiten
- Lade jemanden zum Kaffee ein und investiere in echte Gemeinschaft statt oberflächlicher Begegnungen
Langfristig:
- Schließe dich einer LifeGroup (Zellgruppe) an, wo diese Werte gelebt werden
- Werde aktiver Teil deiner Gemeinde – nicht als Konsument, sondern als Partner in Jesu Dienst
- Bete dafür, dass deine Kirche ein Ort wird, wo Menschen Gottes Zuhause erleben
Die Kirche, die Jesus baut
Jesus versprach: „Ich werde meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“
Diese Kirche ist keine perfekte Institution. Sie ist eine widerstandsfähige, vielfältige, authentische, großzügige Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam lernen, bei Gott zu Hause zu sein.
Sie driftet nicht mit den kulturellen Strömungen. Sie bleibt verankert in dem, was wirklich zählt: Gottes Traum von einer Familie, die zusammen mit ihm lebt und liebt.
Ich glaube, dass die Welt diese Kirche dringend braucht. Nicht eine perfekte Kirche. Nicht eine trendy Kirche. Nicht eine politisch korrekte Kirche.
Die Welt braucht eine Kirche, die ein Zuhause ist.
Ein Ort, wo Verlorene Orientierung finden. Wo Zerbrochene Heilung erfahren. Wo Einsame Familie finden. Wo Menschen Gott begegnen.
Das ist meine Überzeugung. Das ist meine Vision. Das ist Kirche als Heimat.
Lass uns gemeinsam diese Kirche bauen – oder besser gesagt: Lass uns Jesus dabei zusehen, wie er sie baut. Und lass uns bereit sein, unseren Teil beizutragen.
*Ich verwende immer wieder bewusst den Begriff Kirche, weil er inzwischen weitgehend austauschbar mit Gemeinde genutzt wird. Gerade im freikirchlichen Kontext hat sich der Sprachgebrauch verändert: Viele Freikirchen sprechen heute selbstverständlich von ‚Kirche‘, weil der Begriff für die meisten Christen – wie auch für unser Umfeld – verständlich, positiv besetzt und theologisch tragfähig ist. Deshalb nutze ich ihn in meinen Artikeln als gleichwertige Bezeichnung zu Gemeinde.
*Vielfalt aus biblisch-konservativer Sicht
Der Begriff „Vielfalt“ wird aus biblisch-konservativer Perspektive anders verstanden als in zeitgenössischen liberalen Diskursen. Biblische Vielfalt bezieht sich auf die von Gott geschaffene und gewollte Verschiedenheit innerhalb seiner Schöpfungsordnung. Norman Geisler beschreibt dies treffend: „Gott liebt Vielfalt – Er schuf alle Arten von Dingen“ und zeigt dabei sowohl „Einheit und Interdependenz allen Lebens“ als auch „die Vielfalt allen Lebens“. Diese gottgewollte Vielfalt umfasst unterschiedliche Persönlichkeiten, Begabungen, Kulturen und Rollen innerhalb der biblischen Ordnung.
Entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen legitimer Diversität und dem, was James Montgomery Boice als „Vielfalt von Persönlichkeit, Interessen, Lebensstil und sogar Methoden christlicher Arbeit“ beschreibt, einerseits und der Relativierung biblischer Wahrheit andererseits. Während Gott den Menschen sowohl „als Mann und Frau“ schuf (Gen 1,27), bleiben die von ihm eingesetzten Unterschiede und komplementären Rollen bestehen.
Die biblische Sicht würdigt daher die „göttliche Schöpfervielfalt“ (Schnepper), lehnt aber eine Vielfalt ab, die Gottes Schöpfungsordnung und moralische Standards relativiert oder untergräbt. Wahre Einheit entsteht nicht durch Uniformität, sondern durch Vielfalt innerhalb der biblischen Wahrheit – analog zur Einheit in der Trinität, wo unterschiedliche Rollen bei völliger Wesensgleichheit bestehen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich hier.